Tage danach

Die orientalischen Weisen sind verklungen. Eine spontane Session befreundeter Musiker haben sie verdrängt. Das ist gut so. Die Gegenwart hat wieder Platz. Vielleicht sogar die Zukunft. Auch so trägt Musik. In Kombination mit Freundschaft ist sie ein besonderes Elixier. Sie füllt das müde pochende Herz.

Dennoch. Etwas ist geblieben. Vergangenheit als Vergleichsmaßstab. Und der führt zu Reue, Unbehagen und Ärger.

Reue, weil auch ich mich hin und wieder über die geschäftstüchtige Anmache der tunesischen Tourismus-Glücksritter mokiert habe. Weil ich sie nicht ausreichend vor ähnlichen Kommentaren meiner Gesprächspartner in Schutz genommen habe.

Unbehagen darüber, dass wir ein Vielfaches an Anmache tagtäglich im Fernsehen apathisch hinnehmen. So schnell können wir gar nicht weiter zappen, dass wir nicht schon eine Ladung abbekommen hätten. Pikiert über zwischenmenschliche Kontaktanbahnung, doch Beine und alle Körperöffnungen breit, für alle möglichen Arten werblicher Penetration durch irgendwelche Prominente, durch mehr oder weniger subtil aufgebaute Botschaften. Sie alle hämmern in die ausgelaugten Schädel: kaufe, kaufe, kaufe, mehr, mehr, mehr! Wie harmlos ist dagegen das freundliche „Hallo! Deutsch? Englisch? Kommen Sie – nur gucken, gucken nix kosten!

Ärger über den Schwachsinn, den wir zwischen den Werbeblöcken hinzunehmen gewillt sind. Wenn die Birne schon mal weich ist, muss man sie auch weich halten. Rappelt man sich gerädert auf, rast schon wieder eine Stampede von Sitcoms und durch die Gegend ballernden Marionetten über einen hinweg. Kanalwechsel. Dito. Verzweiflung und der Wunsch woanders zu sein. Doch wo?

Es liegt mir ferne, geringer industrialisierte Länder zu romantisieren. Deren oberflächliche Idylle trügt stets. Im Alltag geht es um Kohle & Besitzstände. Um den besseren Deal. Allerorten. In allen Systemen. Tagein – Tagaus.

Okay, die europäischen Industriestaaten erreichen mit der Kombination erstklassiger beruflicher Qualifikation ihrer Bürger (als Arbeitnehmer, Selbständige, Scheinselbständige, Arbeitslose) und der Utilisierung des enormen Restpotentials an menschlichem Schwachsinn (Konsumenten) ein beachtliches Wirtschaftvolumen. Sie finanzieren damit ein veritables Sozialsystem. Respekt. Ehrlich. Die Bürger anderer Länder können davon nur träumen. Und sie tun es. Ausgiebig.

Was sie zumeist nicht sehen, ist der hohe Preis, der dafür zu zahlen ist: Wir schaffen zu Lasten schöngeistiger, sozialer und innerer Werte den kaltschnäuzigen „homo ökonomicus“ (vor dem mir graut). Der dreht unentwegt an der Spirale von Leistungssteigerung und Effizienz (Zeitmanagement-Kurse werden im übrigen auf großen Transparenten jetzt auch schon auf der Insel Djerba angeboten). Die Geschwindigkeit nimmt Atem beraubend zu. Wir bewirken so jährliche Steigerungen des Wirtschaftswachstums und fahren gleichzeitig das Sozialsystem, die vielleicht wichtigste soziokulturelle Errungenschaft des 20. Jahrhunderts, drastisch zurück. Toll.

Unser Zeitgeist fördert das Geschäft. Wohlstand schafft Frieden. Regional. Besänftigt die Gemüter. Derer, die partizipieren. Die übrigen Brüder und Schwestern – und einige von uns, denen das nicht genügt – werden auch in Zukunft von Sonne und Freiheit träumen. Und das gelegentlich einfordern. Dann wird die Zeit eine Pirouette drehen und wir werden demütig vor ihr das Haupt neigen.

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